Daniel Twardowski
Daniel Twardowski

keiner zeit, niemals

 

Nachts ist kein Himmel über Piero, nur schwarzes Nichts, das kurze Gras unter ihm, dunkle Erde, Reste von Wärme, die sich in die weißen Wurzeln zurückzieht, und seine Hände unter ihm, graben nach Wurzeln, in die unbefestigte Straße gestampft von zwei Tonnen Automobil, die direkt über Pieros Herz fuhren, die schmale Brust des ewig Unruhigen zerrissen, nach innen zerrissen, gesprengt den Käfig der Rippen, ausgelaufen das Leben, der Fleischkerker der Materie, sang der Verbrannte und alles ist eitel der Prediger, und sein Opfer, das brennende Fleisch in Pieros Film, brennendes Verlangen in Pieros Hoden, der geile Brand läuft noch am Oberschenkel hinab, wie hinter den aufgerissenen, gesprengten, zerbrochenen Augen der letzte Film.

 

Die Nacht bricht auf wie eine alte Wunde, die Wege der Würmer unter den Steinen, abgezirkelt, quadratische Ordnung der Dinge, der Steine der Stadt, der Gebäude aus Licht, der behauenen Steine, die schon die Schritte Catulls, Martials, Aretinos lenkten auf dem Weg zu den Engeln, auf der Spitze des Messers, den lockigen Knaben des Ordens vom finsteren Blick, in den Bögen von Stazione Termini, auf der Piazza di Cinquecento, die Teufelsjungen, die ungewaschenen Engel der Vorstädte kennen Piero schon, sie nennen ihn den Professor, weil er so viel redet, viel fragt, ihre Namen wissen will, wo sie wohnen, wie sie leben, ob sie Mädchen haben, bis sie ihm das Maul stopfen mit ihren harten, jungen Schwänzen.

 

Keiner singt schöner als Piero singt wie ein Gott, nicht sein Mund, seine Worte singen, seine Stimme ist heiser, hustet die Zigaretten von vier Jahrzehnten aus, Nazionali und Selbstgedrehte, gelb sind Pieros Finger geworden, sein Lied ist blau und ocker, ist vier Jahrzehnte, Italien, ist nicht sein Lied, nur seine Strophe, Pieros kleine Strophe im großen Chor, singt im friaulischen Dialekt, der Sprache seiner Mutter in den Gassen des Nordens, den Gassen des Südens, wo weiße Wäsche in dem Zephyr weht, der Marc Antons Flotte zerblies, rauscht bei heruntergekurbelten Scheiben durch einen Giulia 2000 Alfa Romeo GT, auf der Via Ostiense, auf dem Weg zum Meer.

 

Er wird sie werden ihn ficken am Meer, wo tausend kleine Leben enden, unsichtbar so weit man sieht, Fliegen, Maden, Würmerleben unter den Steinen den Sternen in dieser halben Stunde, Zeit für ein Gedicht, in dem ohnmächtig kleine Wellen, Kiesel, Geröll wütend in das geschundene Land beißen, weiß waschen wollen den nächtlichen Strand, Abfallhaufen, die drei schwarzen Knaben neben den Abzugsrohren, amphibische Röhrenknochen, grün überwachsen, kilometerlang, pumpen die Scheiße ins Nichts, wird der Wind wissen, wird der Wind singen in dunklen Haaren, geöffneten Mündern, ihre Schreie hinaustragen, die Sehnsucht, die Piero an Tagen wie diesem an seiner Kehle fühlt wie eine würgende Hand.

 

Piero will leben bis an die tiefsten Stellen, an den tiefsten Stellen ist Piero frei, gleich neben dem Tod, nicht im seichten Mittag der Stadt, wo die Cafés im Häuserschatten schlafen, Revolution im Radio singt, die Mädchen Roms den weichen weißen Arsch der Welt an ihm vorübertragen, Spinnen Netze an ihn knüpfen und Kaffee verdampft aus gelblich-weißen Tassen hoch ins Himmelblau, mit dem Geplauder über Kunst, Theater, Film, das neue Buch, die alte Zeit, den Tod der Könige, Cäsaren, ihre Gräber blinken, glänzen, Kardinäle mit glatten Stirnen und die Nachts gut schlafen wie die Fliegenbälger, spiegeln sich in tausend Objektiven, Kameras aus Japan, Deutschland, USA, is-that-the-Trevi?

 

Rom war schon immer tot, die Steine sagen nichts mehr an, was bunte Bilder nicht schon wüßten, millionenfach verraten haben, schöner Schein im Vierfarbdruck von Ehrfurcht vor großen Zeiten und Geschichte ist nichts, war nie, ist nur in den Vorstädten, Borgate, in Tiburtina III, im Heulen geschlagener Kinder, vergewaltigter Jungen, Seelen hinter den Mauern von Casal del Marmo, dem Gefängnis von Civitavecchia, wie schön sie sind, viel schöner als der glatte Marmor, das kalte Geschlecht Apolls im Belvedere, ewiger auch, immer wieder hochwachsend, in Pieros Mund wachsend, stöhnend, während der Alfa Romeo vorbei an Cestius‘ Pyramide, den angestrahlten Ruinen, ins schwarze Ostia fährt.

 

Es ist ein Spiel, va banque und immer wieder, der Einsatz ist schon Gewinn, ist Leben, schmutzig, uneingestanden, Erinnerungen, die die Scham nicht beim Namen nennt, kein Gedicht mehr für Piero, kein Lied vom Idroscalo, Endstation, hier steigen sie aus, drei Jungen, ein Mann, er war noch nie hier, aber er kennt alles, das räudige kleine Fußballfeld, die windschiefen Tore, Baracken am Ende, zum Meer hin, wie hingeschissen vor die große Stadt, ohne Licht, Wasser, Strom, die namenlose schmale Straße vom Lido nach Norden, Richtung Fiumicino, die festgestampfte Erde der dritten Welt, hier hat er selbst schon getötet, zwischen Buchdeckeln, auf Zelluloid, Knaben und Mädchen gefangen für Saló, das Decamerone, für Tausendundeine Nacht.

 

Er hat die Teufelsjungen erfunden, ragazzi di vita violenta, Marcello, Riccetto, Tommasino, er könnte auch diese erfunden haben, Giuseppe 'Pino' Pelosi, den seine Freunde den Frosch nennen, den zierlichen, pickligen Jungen im grünen Pullover, er hat seinen Geschmack noch im Mund, den Dritten, Dunklen, den Piero Gennariello nennt und sagt, es wäre mir lieb, wenn du ein wenig sportlich wärst, also schmalhüftig und mit kräftigen Beinen, mit dem will er spielen, kein poetischer Schmerz, das Gold des Tages verbrannt, ein albernes Spiel auf dem Idroscalo, ein Fußballspiel ohne Ball, ein imaginäres Spiel in der Dunkelheit laufen sie lachend durcheinander, zu mir, Pino steht frei, gib ab, Schuß, linker Winkel, Il-pro-fes-so-re!

 

Piero zieht sein Hemd aus wie eben, im Wagen noch, der Junge den grünen Pullover, ihm ist heiß geworden, sie kühlt der Wind ab, der vom Meer herüberweht, einen Kilometer weit über Unkraut, Müll und verrostendes Wellblech streicht, Hundegebell mit sich fortträgt und die schwülen Gerüche der Nacht, in der sie einander umarmen im gespielten Jubel, Piero und Gennariello, seine Erfindung, seine Hüften, Piero spürt seinen festen kleinen Arsch, will ihm die Hose herunterziehen, spürt seine Erektion, hört seine Stimme, No, no, Pino, aiuto, bekommt den Schlag auf den Hinterkopf, einen Tritt in den Rücken, die Bandscheiben lodern auf unter dem bösen Foul, die Jungen laufen lachend zum Wagen zurück.

 

Er könnte liegenbleiben, sie würden den Wagen nehmen, er hat das Spiel verloren, das ist ein billiger Preis, aber das Fleisch bäumt sich auf gegen das Unrecht, unerfülltes Verlangen, austrainierte Wut dreht Steine um und um, Piero gegen alle, so war es stets, gegen die Christdemokraten, die Katholiken, die Kommunisten, das Fernsehen, die Schulen, die Korruption, gegen die Schmerzen, Muskeln gehorcht noch einmal, Beine bewegen sich und Piero läuft ihnen nach, ein sanfter, gewalttätiger Gott über Linksaußen, ein gefoulter Junge im Sturm, holt einen ein, drischt ihn wie leeres Stroh auf dem Boden, ohne Besinnung, die Finger wühlen im harten Staub, in den Sand hinaus fliegen Haare, die der Wind fortträgt, als die anderen sich umdrehen.

 

Keine rasche Kugel für Piero, keine ehrliche Kugel, Zaunlatten zerbrechen auf Pieros Kopf, öffnen Pieros Schädel, sein Blut über sie, seine Kinder, wie er schreit in die Nacht, Mama, Mama, sie bringen mich um, deinen Jungen, deinen Liebling, der arme Kerl, und hat so schlaue Sachen gesagt, geschrieben, durchdacht, so gescheit, so geschraubt manchmal, immer gedichtet, Gedichte im Dialekt, Hühnchen in Rotwein, wie leise weinend vor Mitleid mit seinen Mördern, Mama, Mama, sie bringen mich um, zwei halten ihn, der Dritte, der Dunkle tritt ihm zwischen die Beine, wieder und wieder, Blut schießt in den Unterleib, ein riesiges Hämatom, kaum noch als Genital zu erkennen, und Piero wird Asche, wird Staub, wird Schlamm.

 

Wie lange schon liegt er, sein Blut ist noch warm, wo sind die Jungen, was ist Zeit, was Geschichte, alles wird klein, wird kalt, das Gute und Schlechte, die Jungen sind nichts, der Mensch ein saisonaler Trend zwischen zwei Eiszeiten, sein Schädel ist offen, er findet sein Hemd, wischt das Blut ab, wieviel Blut, denkt er, tastet, kriecht auf die unbefestigte Straße, dreht die Steine um, denkt nicht mehr, und der Wagen, Giulia 2000 Alfa Romeo GT, die Scheinwerfer sind nicht an, eine lichtlose Masse prallt gegen sein Fleisch, seine Knochen bersten, zwei Tonnen fahren über ihn hin, holpern, als sei Piero ein Schlagloch, zerreißen Adern und Nerven, sprengen den Herzmuskel, das war Piero, auf dem Bauch liegend, Hände unter sich auf der nackten Erde, den Kopf zur Seite gedreht, das Ohr am Herzschlag keiner Zeit, niemals 

 

 

Das Leben wird müde an dem, der aushält.

                                                                  (Pier Paolo Pasolini)

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