Daniel Twardowski
Daniel Twardowski

Nachtzug

 

Es hatte vor allem deswegen so oft geklappt, weil schon die geringste Aussicht auf ein nettes Stück Arsch, harmlos, straflos, kostenlos, bei den meisten Männern immer noch den Verstand schockfrostet. So erfolgreich war es, weil die meisten aus Luxemburg kamen. So erfolgreich, daß sie manchmal ein halbes Jahr davon leben konnten.

    Jenny hatte inzwischen einen Blick für die richtigen Männer und steuerte mühsam die Wagen der 1. Klasse an, während der Nachtzug in den unteren Schleifen der Kyll schlingerte. Schon das zweite Abteil war perfekt:  ein einzelner Mann, um die fünfzig, leger aber edel gekleidet, lederne Reisetasche; ein Geschäftsmann eben, der so tut, als sei er Tourist. Als sie umständlich mit der Tür klapperte, sah er mißtrauisch hoch. Zoll? Steuerfahndung? jetzt noch? hier noch? Dann erkannte er ihre Behinderung und sprang hoch, als hätte er eine Feder im Hintern, um ihr die Tür aufzuhalten.

    „Entschuldigung“, sagte Jenny. Sie konnte schon in der Schule auf Kommando rot werden. „Das ist mir schrecklich peinlich, aber es ist sonst niemand da.“ Der Gips, der ihren rechten Arm von den Fingerkuppen bis weit über den Ellenbogen bedeckte, juckte immer so fürchterlich, daß sie ihre Nervosität kaum noch spielen mußte. „Könnten Sie mir vielleicht behilflich sein?“ Und schwitzen. Nicht so, daß es tropft, nur bis zum verschämten Glänzen. „Ich müßte dringend mal zur Toilette!“

    Der Mann war zuerst überrascht, danach amüsiert und dann geilte er sich daran auf, alles in drei Sekunden. Jenny erkannte es am Glitzern in seinen Augen. 

 

Als Marek aus dem Zug stieg, schlug sein Herz so hoch im Hals, daß er kaum noch schlucken konnte. Soviel war es noch nie gewesen, mindestens 20.000, im Schuhfach der Reisetasche. Jenny war sensationell. Als der Zug weiterfuhr, holte er tief Luft und  ließ sie in seiner Lunge, bis es wehtat. Er würde nie verstehen, wie Jenny es schaffte, bei all dem so cool zu bleiben. Er legte die Tüte mit dem Geld und den Papieren des Mannes in das Staufach unter dem Sitz des Motorrads. 20.000! Was könnten sie damit alles machen!

    Wie immer wurde er ruhiger, als er den Zündschlüssel drehte, als seine Hände auf den schwarzen Griffen der Lenkung lagen und das Vibrieren des Motors ihm das Rückgrat hochlief wie die flinken Finger einer erfahrenen Hure. Zwischen Kyllburg und Gerolstein konnte er voll aufdrehen und holte den Zug ein. Hin und wieder sah er ihn, hoch auf dem Bahndamm, neben sich, ein rasendes Irrlicht im Wald, hinter den schwarzen Bäumen hervorbrechend, fauchend. Jetzt lag er schon weit zurück, und als der Bahnübergang von Birresborn frei war, wußte Marek, daß er ihn hatte.

    Er stellte sich im Schatten des Bahnhofs auf, hörte den Zug einfahren, abfahren, aber Jenny kam nicht heraus. Marek stellte das Motorrad ab, ungutes Gefühl, 20.000! und lief durch den Bahnhof, sah nur die schmutzige kleine Unterführung, den leeren Bahnsteig. Jenny war nicht ausgestiegen. Marek folgte dem Zug noch für fünf Stationen, aber er holte ihn jetzt nicht mehr ein. Immer war er schon weiter, wenn Marek kam und hatte Jenny nicht ausgespuckt.

 

„Schädelbruch, hinten links.“    

„Erschlagen?“

„Sie könnte auch auf die Kante der Toilette gefallen sein.“     

„Geschlechtsverkehr?“

„Nein, aber er hat‘s wohl versucht. Da sind eine Menge Schamhaare ausgerissen.“

„Todeszeitpunkt?“    

„Zwischen zwölf und eins.“

„Wo war der Zug da?“     

„Zwischen Bitburg und Kall.“

„Endlich mal ein klar umrissener Tatort.“

„Ja, aber das beste kommt noch. Ihr Arm, also der Gipsarm...“     

„Ja?“

„Der war überhaupt nicht gebrochen!“

    Kommissarin Meylage runzelte die Stirn, während ihr junger Kollege Feldmann bei seinen Worten strahlte, als hätte er Amerika entdeckt. „Und was sagt uns das?“

    „Ruf mal bei den Kollegen von Raub und Diebstahl an“, erwiderte Meylage. „Ich brauche alles über Diebstähle in Zügen, sagen wir: aus den letzten drei Jahren.“

     „Sie war ein Lockvogel!“ Feldmann grinste wie ein satter Säugling.

    „Stell lieber ihre Personalien fest“, sagte die Kommissarin.

 

Immer der gleiche schmutzige Film. Die enge Kabine, Pisse und Chlor oder sonst ein Desinfektionsmittel; er bekam den Geruch nicht mehr aus der Nase. Die Nähe, die Wärme des Mädchens, die enge Jeans, kaum über die Hüften zu bringen. Ihr weißer Bauch, der schwarze Pelz, der ihm unter der billigen Bluse so plötzlich entgegensprang. Die festen Hinterbacken, die er nur kurz berührte, ganz kurz, zu kurz, als er den Slip runterzog. Schwitzen, Räuspern, falsches Lächeln. Den Rest schaffen Sie wohl allein?

    Er hatte sich taktvoll umgedreht, aber im Spiegel alles gesehen. Wie sie die Bluse nach oben raffte, mit der linken Hand, unters Kinn. Wie die Bluse da einfach nicht bleiben wollte, als das Mädchen – Herrgott, sie könnte meine Tochter sein – in die halbe Kniebeuge ging – Nur nicht berühren, mein Arsch ist sauberer als die Klobrillen der Deutschen Bahn – Bomberpilot, dachte er, wir nannten das Bomberpilot, damals beim Bund. Er grinste ein Jungengrinsen. 

    Wie sie sich festhält, abstützt mit der linken Hand, die rutschende Bluse unterm Kinn. Wie sie kämpft, verliert, den Blusenzipfel schließlich in ihren Mund nimmt. Wie sie hersieht zu ihm, wie sie sieht, daß er guckt. Wie sie zu lächeln versucht, was nicht leicht ist, mit einem Blusenzipfel im Mund, mit nacktem Arsch, mitten im Pinkeln; stoßweise jetzt, noch mal und noch mal. Die Vorstellung ihres nassen Geschlechts, das sich öffnet und schließt. Blut schießt in den Unterleib, ganz plötzlich, fast wie ein Schlag. Ein Schlingern, sie taumelt. Er springt zu ihr hin, ganz Gentleman, faßt sie unter den Armen, berührt ihre Brüste dabei. Und dreht sich rasch wieder um, fast erschrocken; aber die Beule in seiner Hose hat sie jetzt sowieso gesehen. Plötzlich ist es so still, daß er das Kratzen des Toilettenpapiers auf ihrem Schamhaar hört. Alles wird dunkel, und in der Dunkelheit sagt seine eigene Stimme: Lassen Sie mich das machen! 

 

Marek liegt auf dem Bett, und er weiß es. Es steht schon im Internet, Mord im Nachtzug. Wäre er schneller gewesen, hätte er was geahnt! Er weint nicht, aber er zwinkert auch nicht mehr, starr die Augen zur Decke gerichtet. Schweiß sammelt sich in der Kehlgrube, langsam, so, wie die Zeit verrinnt. Er sieht Jenny nicht, aber seltsamerweise kann er sie hören, hört sie lachen. 20.000! Was hätten sie damit alles gemacht? In seinen Händen die Papiere des Mannes. Er braucht nur noch ein Telefonbuch.

 

„Jennifer Strobel aus Trier. 21.“      

„Beruf?“

„Studiert angeblich.“       

„Familie?“ 

„Alles sehr bürgerlich“.      

„Gabs mal Ärger?“ 

„Nur in den letzten zwei Jahren. Sie wollte wohl kein Abi mehr machen...“ 

„Ein fester Freund?“      

„Vishniac, Marek, 25.“ 

„Beruf?“ fragte Meylage. 

„Krankenpfleger“, antwortete Feldmann. 

„Gips!“ sagten dann beide so gleichzeitig, daß sie darüber lachen mußten.

 

Es regnete schon den ganzen Tag; ein dünner grauer Regen, der überallhin drang und kein Geräusch verursachte. Er hatte keine Minute geschlafen, nur an das Mädchen gedacht. Nicht! Bitte!! Was sollte er seiner Frau sagen? Du siehst furchtbar aus, stimmt was nicht? Was sollte er über das Geld sagen? Stell dich nicht so an! Ich hab nur schlecht geschlafen. Wegen gestern? Als sie schreien wollte, hatte er ihr den Mund zugehalten, die rechte Hand hart zwischen ihre Beine gekrallt. Zuviel Aufregung, armes Bärchen! Es war feucht und heiß zwischen ihren Beinen. Er versuchte zu grinsen. Ich werde zu alt für sowas. Komm schon, du willst es doch! Sie küßte ihn auf die Wange, flüchtig, wie tausendmal. Sie wehrte sich, aber der Gipsarm behinderte sie. Er keuchte. Tja, alt muß man sein, reich muß man sein! Sie versuchte, ihm ein Knie zwischen die Beine zu rammen, aber sie verhedderte sich in der runtergezogenen Jeans. Und das Geld ist im Safe? Sie fiel. Er fiel auf sie, hörte etwas knacken und dachte noch, es wäre die Klobrille. Es klingelte an der Tür.

 

„Keine großen Diebstähle gemeldet, aber das ist auch kein Wunder.“      

„Warum?“ 

„Die meisten kommen wahrscheinlich aus Luxemburg...“      

„Schwarzgeld!“ 

„An sich eine saugute Masche“, stellte Feldmann mit professioneller Anerkennung fest. „Sie lockt die Kerle aufs Klo, er beklaut sie, steigt an der nächsten Station aus, pickt sie an der übernächsten auf...“ 

„Und die Opfer halten das Maul, weil sie das Geld sowieso nicht haben dürften“, ergänzte Meylage. 

„Vielleicht hat der letzte mittendrin was gemerkt?“ 

„Oder er wollte mehr, als ihr nur beim Pinkeln zusehen.“ 

„Schreiben wir Vishniac zur Fahndung aus. Hoffentlich kann er den Kerl beschreiben, sonst kriegen wir ihn nie.“ Feldmann seufzte vor Enttäuschung. 

„Moment!“ Kommissarin Meylage stutzte. „Also, die haben den Mann beklaut.“ 

„Ja. Aber nachdem er das Mädchen umgebracht hat, wird er das wohl kaum anzeigen.“ 

„Nein. Aber dann hatte er doch gestern Nacht kein Geld...“ 

Feldmann ging der Mund auf. Dann griff er mechanisch zum Telefon: „Hallo, ich bin‘s. Checkt doch mal die Taxistände an den Stationen von Bitburg bis Köln. Wir suchen jemanden, der gestern Nacht nicht bezahlen konnte.“ Er legte auf und versank in finsterem Schweigen. „Scheiße!“ rief er dann so plötzlich, daß die Kommissarin aufschaute. Er grinste säuerlich. „Ich bin so blöd, und du bist so schlau!“ 

 

Marek stellte das Motorrad direkt an der Bundesstraße ab. Da würde es jedem auffallen, aber das war jetzt egal. Er ging ein kurzes Stück durch den Wald,  bis der Bahndamm vor ihm aus der Erde wuchs, hoch, steil, schwarz in der Nacht. Es regnete immer noch, und er rutschte ein paar Mal aus, als er hinaufkletterte. Einzelne Steine rollten unter seinen Füßen weg, schlugen mit hellem Klacken gegeneinander, fielen dann dumpf ins Gras und blieben endlich liegen. Oben war es so still, daß er Jenny wieder lachen hörte. Er weinte jetzt doch. Die Tränen liefen über sein Gesicht und verloren sich im Regen.

 

„Bingo!“ sagte Feldmann, als er das Gespräch weggedrückt hatte. „Euskirchen, Godesberger Straße 134.“ 

„Worauf warten wir?“ fragte Meylage.

Aber als sie hinkamen, waren die Kollegen schon da, alles abgesperrt, die Spurensicherung voll im Gange. Es sah nicht nach einem Kampf aus, eher nach einer Flucht. Ein paar Möbel waren umgeworfen und die Ehefrau stand unter Schock. „Aber wir haben eine Personenbeschreibung“, sagte ein Uniformierter stolz. „Und sogar das Kennzeichen des Motorrads. Der kommt  nicht weit!“

„Er hat ihm direkt an der Tür die Kehle durchgeschnitten.“ Feldmann ließ sich auf den Fahrersitz fallen und das Kunstlederpolster ächzte. „Das Opfer ist ins Wohnzimmer zurückgelaufen, aber er hat weiter auf ihn eingestochen, in Kopf, Rücken und Brust.“

„Er hat sich nicht viel Mühe gegeben, unerkannt zu bleiben“, sagte Kommissarin Meylage mißtrauisch, und die Worte hingen noch in der Luft, als über Funk die Meldung kam. Zwischen Dahlem und Jünkerath hatte der Nachtzug einen Mann überrollt, der auf den Gleisen stand. Meylage ließ den Kopf müde gegen das Seitenfenster sinken. 

„Man kann nicht immer gewinnen“, sagte Feldmann nach einer Weile.

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